Es ist ein Bild, das verstört: Ein 81-jähriger queerer Musiker steht im Moskauer Kreml und nimmt aus den Händen von Wladimir Putin einen Freundschaftsorden entgegen – in einem Land, in dem seit Januar 2024 die "internationale LGBT-Bewegung" als extremistische Organisation eingestuft ist und Beschuldigten bis zu zwölf Jahren Gefängnis drohen. Wie queer.de berichtet, wurde der bekannte deutsche Pianist und Dirigent Justus Frantz am russischen Tag der nationalen Einheit im Kreml ausgezeichnet – eine Entscheidung, die für viele queere Menschen wie ein Schlag ins Gesicht wirkt.
Ein spätes Coming-out – und eine fragwürdige Entscheidung
Justus Frantz bezeichnete sich in der Vergangenheit selbst als "Putin-Versteher" und verteidigte sogar die russische Annexion der Krim als "Wiedergutmachung historischen Unrechts". Erst im vergangenen Jahr, kurz vor seinem 80. Geburtstag, hatte sich Frantz öffentlich geoutet – zunächst in seiner Biografie, später mit der Bekanntgabe seiner Beziehung zu seinem 53 Jahre jüngeren Manager Sebastian Kunzler. Ein mutiger Schritt, sollte man meinen. Doch seine Entscheidung, trotz westlicher Sanktionen nach Russland zu reisen und dort eine Auszeichnung entgegenzunehmen, wirft die Frage auf: Wo endet die Liebe zur Musik, und wo beginnt die Komplizenschaft mit einem unterdrückenden Regime?
"Das ist für mich eine große Ehre, dass ich heute hier sein kann und ich so einen wichtigen Orden habe", sagte Frantz auf Russisch zu Putin und betonte seine lebenslange Liebe zur russischen Musik, insbesondere zu den Werken von Tschaikowsky und Rachmaninow. Diese Worte fallen in einem Land, in dem der Oberste Gerichtshof die internationale LGBTQ+-Community als "extremistische Organisation" einstufte und damit Tür und Tor für die willkürliche Verfolgung und Inhaftierung von LGBTQ+-Personen öffnete.
Die brutale Realität für queere Menschen in Russland
Während Frantz im Kreml gefeiert wurde, leben queere Menschen in Russland in ständiger Angst. Das 2013 verabschiedete "Schwulen-Propaganda-Gesetz" führte Beschränkungen für Rollenmodelle von LGBTQ-Personen unter Minderjährigen ein und bestrafte die Verbreitung von Materialien, die "nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen" darstellen. Das Gesetz wurde 2022 zusätzlich verschärft und gilt nun auch gegenüber Erwachsenen.
Das neue Gesetz verbietet Werbung, Medien- und Online-Inhalte, Bücher, Filme und Theateraufführungen, die "LGBTQ-Propaganda" enthalten – in der Praxis reicht dafür oft die Darstellung eines Regenbogens als LGBTQ-Symbol. Bereits unmittelbar nach Verkündung des Gesetzes kam es zu ersten Razzien an Community-Orten, und es häufen sich Berichte über Erpressungen, Kündigungen, Drohungen und Angriffe, die die Betroffenen nicht anzeigen können.
Menschen könnten aufgrund unbegründeter Extremismusvorwürfe ins Gefängnis kommen, wenn die Behörden sie als Teil der sogenannten "internationalen LGBTI-Bewegung" ansehen. Selbst Symbole wie die Regenbogenflagge könnten als extremistisch verboten werden.
Parallelen in Deutschland: Wenn Exil die einzige Option ist
Die Situation in Russland ist auch für Deutschland relevant. Eine zunehmende Zahl an LGBT-Personen migriert aufgrund der beschriebenen Entwicklungen ins Ausland und auch nach Deutschland, wo sich der Verein Quarteera, ein Zusammenschluss russischsprachiger queerer Menschen, unter anderem für sie einsetzt. Wie queer.de bereits 2022 berichtete, kennt ein Berliner Kunsthistoriker Hunderte Russinnen und Russen, die wie er selbst wegen politischen Drucks oder eines vergifteten Klimas unter Präsident Wladimir Putin nach Deutschland zogen, vor allem nach Berlin.
Ein Fünftel der Russinnen und Russen möchte laut Umfragen im Ausland leben, darunter auch viele Homosexuelle, die es im intoleranten Heimatland nicht mehr aushalten. Diese Menschen fliehen vor genau jenem System, das Justus Frantz nun mit seiner Anwesenheit und seinen lobenden Worten legitimiert.
Ein Signal mit verheerender Wirkung
In Deutschland sorgt Frantz' Auszeichnung für Kopfschütteln. Seine Entscheidung sendet ein verheerendes Signal an queere Menschen in Russland, die täglich um ihre Sicherheit und Freiheit kämpfen. Als stellvertretendes Symbol für den "Westen" und seine Werte wird die LSBTIQ-Community zur Zielscheibe von Politik und Justiz Russlands gemacht. In diesem Kontext wirkt Frantz' Auftritt im Kreml wie ein Verrat an der eigenen Community.
Es stellt sich die Frage: Kann kultureller Austausch jemals unpolitisch sein, wenn er in einem autoritären Regime stattfindet, das systematisch Minderheiten verfolgt? Queere Identitäten in autoritären Systemen sind nie sicher – selbst dann nicht, wenn sie scheinbar akzeptiert werden. Diese historische Lektion scheint Frantz ignoriert zu haben.
Die Verantwortung prominenter queerer Personen
Justus Frantz mag ein großartiger Musiker sein, dessen Liebe zur russischen Kultur tief und authentisch ist. Doch in Zeiten, in denen alle, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen und bislang eingesetzt hatten, potenzielle "Extremisten" sind, denen jahrelange Haftstrafen drohen, wiegt die Symbolkraft seiner Entscheidung schwer. Seine Anwesenheit im Kreml und seine dankbaren Worte an Putin verleihen einem Regime Legitimität, das queere Menschen systematisch unterdrückt, verfolgt und zum Schweigen bringt.
Verfolgte und besonders schutzbedürftige LSBTIQ-Personen aus Russland benötigen dringend Aufnahme in Deutschland – gemäß dem Aktionsplan "Queer leben" der Bundesregierung und den Leitlinien für eine feministische Außenpolitik. Während deutsche queere Aktivistinnen und Aktivisten für genau diese Solidarität kämpfen, steht ein prominenter queerer Musiker im Kreml und lässt sich feiern.
Der Fall Justus Frantz zeigt schmerzlich, dass Sichtbarkeit und ein spätes Coming-out allein noch keine politische Verantwortung bedeuten. Wahre Solidarität mit der queeren Community erfordert mehr als nur das eigene Outing – sie erfordert den Mut, nicht mit jenen zu paktieren, die andere queere Menschen verfolgen, einsperren und ihrer grundlegendsten Rechte berauben.
