Ein wegweisendes Gutachten des Europäischen Gerichtshofs könnte die Rechte von trans Menschen in ganz Europa nachhaltig stärken. Richard de la Tour, Generalanwalt am EuGH, stellte am Donnerstag klar, dass EU-Mitgliedsstaaten trans Menschen Ausweisdokumente ausstellen müssen, die mit der gelebten Geschlechtsidentität übereinstimmen. Die Entscheidung betrifft den Fall einer trans Frau aus Bulgarien und sendet ein deutliches Signal an alle EU-Staaten – gerade in Zeiten, in denen trans Rechte zunehmend unter Druck geraten. Das vollständige Gutachten können Sie hier nachlesen.
Der Fall aus Bulgarien: Wenn Dokumente zur täglichen Hürde werden
Die Klägerin aus Bulgarien lebt bereits als Frau und hat eine Hormontherapie absolviert. Doch ihre offiziellen Dokumente spiegeln ihre Identität nicht wider. Im Februar 2023 strich das Oberste Kassationsgericht die Möglichkeit für transgeschlechtliche Menschen, ihr amtliches Geschlecht zu ändern. Der bulgarische Oberste Gerichtshof stützt sich auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts von vor zwei Jahren, die besagt, dass das bulgarische Recht das Geschlecht als etwas versteht, das bei der Geburt festgelegt wird.
Die Auswirkungen sind verheerend: Die Diskrepanz zwischen gelebter Identität und amtlichen Dokumenten führt zu alltäglichen Diskriminierungen, besonders bei der Jobsuche. Der Generalanwalt macht deutlich, dass dies fundamentale EU-Grundrechte verletzt – das Recht auf Privatleben und den Schutz vor Diskriminierung.
Deutschland als Vorreiter: Das Selbstbestimmungsgesetz zeigt den Weg
Während Bulgarien trans Personen ihre Rechte verweigert, geht Deutschland mit gutem Beispiel voran. Am 1. November tritt das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Trans*, inter* und nicht-binäre Personen können jetzt ihren Geschlechtseintrag und Vornamen in einem einfachen Verfahren beim Standesamt ändern lassen. Die Vorlage eines ärztlichen Attests oder die Einholung von Gutachten in einem Gerichtsverfahren sind nicht mehr nötig.
Das neue Gesetz ersetzt das über 40 Jahre alte Transsexuellengesetz, das vom Bundesverfassungsgericht in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde. Der deutsche Bundestag hat am 12. April 2024 ein wegweisendes Gesetz verabschiedet, das Transgender und nicht-binären Menschen erlaubt, ihre rechtlichen Dokumente durch ein auf der Selbstbestimmung basierendes Verwaltungsverfahren an ihre Geschlechtsidentität anzupassen.
Laut der Informationen des Bundesministeriums können Änderungen bereits drei Monate im Voraus beim Standesamt angemeldet werden. Das Verfahren ist bewusst niedrigschwellig gestaltet – ein wichtiges Signal für die Anerkennung der Selbstbestimmung.
Die Realität am Arbeitsplatz: Warum rechtliche Anerkennung so wichtig ist
Die Bedeutung korrekter Dokumente zeigt sich besonders im Arbeitsleben. Bei der Jobsuche haben 36% der trans* Personen in den letzten 12 Monaten Diskriminierung erfahren. 39% wurden im letzten Jahr am Arbeitsplatz diskriminiert. Noch alarmierender sind die Zahlen bei trans Frauen: 42% der trans* Frauen erlebten in den letzten 12 Monaten Diskriminierung bei der Jobsuche.
Eine Studie des DIW Berlin zeigt: 30 Prozent der LGBTQI*-Menschen sind mit Diskriminierung im Arbeitsleben konfrontiert. Bei den Trans*-Menschen sind es sogar mehr als 40 Prozent. Diese Zahlen unterstreichen, warum die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität nicht nur eine Frage der Würde, sondern auch der wirtschaftlichen Teilhabe ist.
Von den befragten transgeschlechtlichen Menschen würden 47 Prozent am Arbeitsplatz niemals offen mit ihrer Transidentität umgehen. Nur 21 Prozent der Befragten leben ihre Transidentität am Arbeitsplatz offen aus. Wenn schon die eigenen Dokumente die wahre Identität verleugnen, wie können trans Menschen dann von ihrem Umfeld Akzeptanz erwarten?
Ein europäischer Präzedenzfall mit Signalwirkung
Das EuGH-Gutachten ist mehr als eine juristische Einzelfallentscheidung. Es reiht sich ein in eine Serie wegweisender Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Der EuGH hatte bereits entschieden, dass die in einem EU-Staat amtlich festgestellte Geschlechtsidentität in allen 27 EU-Staaten anerkannt werden muss. Die Verweigerung der Anerkennung der Geschlechtsidentität behindert die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern, konkret das Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten.
Die operative Geschlechtsanpassung darf dabei keine Voraussetzung sein. Der Generalanwalt betont, dass eine solche Forderung das Recht auf Privatleben verletzt, das die EU-Grundrechtecharta garantiert. Das Urteil betont, dass die Anerkennung der persönlichen Identität, einschließlich der Geschlechtsidentität, eine grundlegende Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist.
Die politische Debatte in Deutschland: Zwischen Fortschritt und Widerstand
Trotz des Fortschritts durch das Selbstbestimmungsgesetz gibt es in Deutschland Gegenwind. Die AfD will kommende Woche im Bundestag über die Abschaffung des Gesetzes diskutieren. Vertreterinnen und Vertreter der Unionsparteien kritisierten, dass die Schutzfunktion des Staates gegenüber Kindern und Jugendlichen vernachlässigt werde. Auch könnten Kriminelle das Gesetz ausnutzen, um unter neuem Namen unterzutauchen. Die Union kritisiert, dass die Änderung nicht an Sicherheitsbehörden gemeldet werden soll.
Diese Argumente wurden jedoch bereits im Gesetzgebungsverfahren ausführlich diskutiert. Länder wie Argentinien, Belgien, Dänemark, Irland, Luxemburg, Malta, Norwegen, Portugal, Spanien und Uruguay haben bereits einfache Verwaltungsverfahren zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts auf Grundlage der Selbstbestimmung. Die Tendenz zu solchen unkomplizierten Verwaltungsverfahren spiegelt den internationalen medizinischen Konsens und die Menschenrechtsstandards wider.
Was das fĂĽr trans Menschen in Europa bedeutet
Das EuGH-Gutachten sendet ein klares Signal: Die Würde und Selbstbestimmung von trans Menschen sind nicht verhandelbar. Für Länder wie Bulgarien, Polen oder Ungarn, die trans Rechte einschränken, wird der rechtliche Spielraum enger. Es ist ein klares Signal, dass die EU ihre Rechte schützt und Diskriminierung entschlossen entgegentritt.
Gleichzeitig zeigt Deutschland, dass Fortschritt möglich ist. Das neue Gesetz zeigt, dass die Regierung die Grundrechte von trans*- und nicht-binären Menschen unterstützt, was zu einem breiteren Verständnis und einer größeren Akzeptanz von verschiedenen Geschlechtsidentitäten beiträgt.
Der Weg zu vollständiger Gleichstellung ist noch weit. Der Bundesinnenminister teilte im Juni 2023 mit, dass die Polizei im vergangenen Jahr über 1.400 Hassverbrechen gegen LGBT-Menschen registriert hatte. In den letzten Jahren gab es mehrere Angriffe auf Pride-Veranstaltungen, von denen einer im Jahr 2022 zum gewaltsamen Tod eines Trans-Mannes führte. Aber jede rechtliche Anerkennung, jedes Urteil, das Menschenrechte stärkt, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Das endgültige Urteil des EuGH steht noch aus, doch die Richter*innen folgen in der Regel den Empfehlungen des Generalanwalts. Für trans Menschen in ganz Europa könnte dies einen historischen Wendepunkt markieren – hin zu mehr Anerkennung, Würde und Selbstbestimmung.