Ein aktuelles Urteil des britischen Supreme Courts zur Definition von Geschlecht im Gleichstellungsgesetz sorgt auch in Deutschland für intensive Debatten. Oscar Davies, Großbritanniens erste nicht-binäre Anwaltsperson, warnt davor, dass die Entscheidung missverstanden und zur Ausgrenzung von trans Menschen missbraucht werden könnte. Die Diskussion wirft ein Schlaglicht auf ähnliche Konflikte in Deutschland, wo das neue Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) trans-, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen seit dem 1. November 2024 erleichtert, ihren Geschlechtseintrag und ihre Vornamen ändern zu lassen.
Das umstrittene Urteil und seine Interpretation
Im April entschied der britische Supreme Court im Fall FWS v Scottish Ministers, dass sich die Definition von "Geschlecht" im Equality Act 2010 auf das "biologische Geschlecht" bezieht. Was auf den ersten Blick wie ein RĂĽckschlag fĂĽr trans Rechte aussieht, ist laut Davies jedoch komplexer. Die Anwaltsperson betont, dass das Gericht explizit davor warnte, das Urteil als "Triumph einer Gruppe ĂĽber eine andere" zu interpretieren.
Davies' zentrale Kritik: Die britische Equality and Human Rights Commission (EHRC) und andere Organisationen würden das Urteil falsch auslegen. "Die Bestimmungen sind erlaubend, nicht ausschließend", erklärt Davies. Trans Menschen könnten weiterhin geschlechtsspezifische Räume nutzen – ein Ausschluss müsse im Einzelfall verhältnismäßig begründet werden und dürfe nicht automatisch erfolgen.
Parallelen zur deutschen Rechtslage
Die britische Debatte spiegelt sich in aktuellen deutschen Kontroversen wider. Das Bundesverfassungsgericht hat in Deutschland in einer langen Rechtsprechung ein Recht auf Anerkennung der geschlechtlichen Identität als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts abgesichert, das auch für trans* und inter* Personen gilt. Mit der Einführung der sogenannten dritten Option "divers" im Jahr 2018 gehört Deutschland zu den wenigen Staaten weltweit, die die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern offiziell anerkennen und nimmt damit international eine Vorreiterrolle ein.
Besonders brisant zeigt sich die Thematik bei der Nutzung geschlechtsspezifischer Räume. Ein aktueller Fall aus Erlangen verdeutlicht den Konflikt: Eine trans Frau wurde von einem Frauenfitnessstudio abgewiesen, obwohl sie angeboten hatte, beim Duschen eine Badehose zu tragen oder ganz auf das Duschen vor Ort zu verzichten. Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, schaltete sich ein und sieht in dem Fall eine Persönlichkeitsverletzung.
Die rechtliche Grauzone: Toiletten und Umkleiden
In Deutschland zeigt sich die Komplexität besonders bei der Gestaltung von Sanitärräumen. Die Arbeitsstättenverordnung verlangt bisher, dass Toilettenräume für Männer und Frauen getrennt einzurichten sind oder eine getrennte Nutzung zu ermöglichen ist. Diese Regelung, die zwingend und ausschließlich die beiden binären Geschlechter berücksichtigt, verstößt nach Ansicht von Aktivist*innen gegen die Rechte nicht-binärer Menschen und ist daher verfassungswidrig.
Vorreiter zeigen bereits Lösungen auf: Ende Oktober 2015 führte der AStA der Universität Kassel für eine Woche sogenannte "All Gender Welcome-Toiletten" ein, bei denen die WC-Beschriftungen von "Männer" und "Frauen" in "Sitz- und Stehklos" geändert wurden. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind "Unisex-Toiletten" grundsätzlich zulässig und könnten bei Bedarf zusätzlich zur vorgegebenen Mindestanzahl von Toiletten bereitgestellt werden.
Die unsichtbare Mehrheit: Nicht-binäre Menschen in Deutschland
Davies' Kritik am britischen Urteil hat besondere Relevanz für Deutschland, wo schätzungsweise 200.000 nicht-binäre Personen leben, die sich als non binary, agender oder genderqueer definieren, wobei etwa 0,1% der Bevölkerung, also ca. 80.000 Menschen, intersexuell sind. Diese Menschen fallen oft durch das Raster binärer Rechtssysteme.
"Es ist erniedrigend als Jurist*in, vom Gesetz nicht anerkannt zu werden, das ich täglich anwende", sagt Davies über die fehlende Anerkennung nicht-binärer Identitäten. Diese Kritik trifft auch auf Deutschland zu, wo trotz Fortschritten viele Rechtsbereiche weiterhin nur männlich und weiblich kennen.
Diskriminierung als Alltag
Die praktischen Auswirkungen zeigen sich deutlich: Verschiedene Studien aus den USA zeigen, dass trans* Personen in vielen Fällen komplett vermeiden, in der Öffentlichkeit etwa ein binäres WC oder eine binäre Umkleide zu benutzen. Auch in Deutschland sind dem Bundesverband trans mehrere Fälle bekannt, in denen sich trans* Personen aus Angst vor Diskriminierung lieber gar nicht erst im Fitnessstudio anmelden.
79,8% der befragten trans* und nicht-binären Personen berichten laut einer aktuellen Studie der Deutschen Aids-Hilfe und des Robert-Koch-Instituts, dass in den letzten zwölf Monaten über sie mit einem falschen Pronomen gesprochen wurde oder sie mit einem Namen angesprochen wurden, den sie nicht mehr nutzen.
Der Weg nach vorn: Dialog statt Ausgrenzung
Davies plädiert für einen differenzierten Umgang mit dem Thema: "Das Gleichstellungsgesetz soll ein Schutzschild sein, kein Schwert. Es geht nicht darum, Menschen anzugreifen oder Rechte zu entziehen." Diese Perspektive ist auch für Deutschland relevant, wo mit der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes am 12. April 2024 jegliche Fremdbegutachtung durch ein selbstbestimmtes Verfahren mittels Erklärung beim Standesamt ersetzt wurde.
Die Lösung liegt laut Expert*innen nicht in starren Regeln, sondern in flexiblen Ansätzen. Die Einrichtung von Unisex-Toiletten kann neben dem Abbau von Diskriminierungspotential für trans*, inter* und nicht-binäre Personen auch für andere Personengruppen wie Väter mit Kindern Vorteile haben und die Nutzung zeiteffizienter machen.
Ein Appell an die Solidarität
Davies' abschließender Appell richtet sich an die gesamte Gesellschaft: "Wenn mehr Menschen ihre Stimme erheben würden, hätten diejenigen, die sich exponieren, weniger Verantwortung zu tragen. Ich spreche nicht nur von trans Menschen, sondern auch von Verbündeten."
Die Vorstellung, trans Menschen würden Frauenräume gefährden, bezeichnet Davies als "absurd". Vielmehr gehe es darum, allen Menschen Würde und Respekt entgegenzubringen – eine Forderung, die in Zeiten zunehmender Polarisierung wichtiger denn je erscheint.
Die Debatte zeigt: Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland stehen Gesellschaft und Rechtssystem vor der Herausforderung, geschlechtliche Vielfalt anzuerkennen und zu schützen, ohne dabei die Bedürfnisse verschiedener Gruppen gegeneinander auszuspielen. Der Weg zu echter Gleichberechtigung erfordert Dialog, Verständnis und den Mut, überholte binäre Strukturen zu hinterfragen.
