Die Worte ihrer Tochter vor Gericht sind eindringlich: "Es vergeht nicht eine Woche, ohne dass jemand sie auf diese Gerüchte anspricht", beschreibt Tiphaine Auzière die Folgen der jahrelangen Cybermobbing-Kampagne gegen ihre Mutter Brigitte Macron. In Paris müssen sich derzeit zehn Personen wegen systematischen Cybermobbings verantworten, weil sie die transphobe Verschwörungstheorie verbreitet haben, Frankreichs First Lady sei als Mann geboren worden. Was zunächst absurd klingt, offenbart bei genauerer Betrachtung ein gefährliches Muster, das Frauen in Machtpositionen weltweit trifft – und das auch in Deutschland nicht unbekannt ist.
Die Pariser Staatsanwaltschaft klagt die Angeklagten an, zahlreiche bösartige Bemerkungen über Macrons Geschlecht und Sexualität gemacht und den Altersunterschied von 24 Jahren zu ihrem Ehemann Emmanuel mit "Pädophilie" gleichgesetzt zu haben. Im Gerichtssaal bezeichnen mehrere Angeklagte ihre Äußerungen als "Satire" oder von der Meinungsfreiheit gedeckt – eine Verteidigungsstrategie, die an die Charlie-Hebdo-Tradition erinnern soll. Doch Auzière beschreibt, wie ihre Mutter systematisch darauf achten müsse, wie sie sich kleide, welche Gesten sie mache, um die Verdrehungen und Verleumdungen nicht anzuheizen.
Die Anatomie einer Verschwörungstheorie
Die ursprüngliche Quelle der Verschwörungserzählung lässt sich zurückverfolgen: Die selbsternannte "Journalistin und Whistleblowerin" Delphine J. verbreitete das Gerücht, dass Brigitte Macron nie existiert habe und ihr Bruder Jean-Michel diese Identität nach seiner "Geschlechtsumwandlung" angenommen habe. Eine groteske Behauptung, die leicht zu widerlegen ist – Auzière kommentierte vor Gericht trocken: "Ich habe meinen Onkel vor ein paar Wochen gesehen, ihm geht es sehr gut" (Quelle: queer.de).
Dennoch gewann die Falschinformation an Fahrt. Die transphoben Gerüchte verbreiteten sich in den USA wie ein Lauffeuer, wo das französische Präsidentenpaar im Sommer ein Gerichtsverfahren gegen die rechtsextreme Influencerin Candace Owens einleitete. Diese transphobe Desinformation hat sich seit der Wahl von Emmanuel Macron 2017 international verbreitet, besonders in den USA.
"Transvestigations": Ein globales Muster frauenfeindlicher Hetze
Brigitte Macron steht nicht allein. Viele andere Frauen des öffentlichen Lebens, wie die ehemalige First Lady der USA Michelle Obama, die ehemalige Premierministerin Neuseelands Jacinda Ardern, und die ehemalige Vizepräsidentin der USA Kamala Harris, sind ebenfalls Opfer ähnlicher transphober Kampagnen in den sozialen Medien geworden, die von Wissenschaftlern als "Transvestigations" bezeichnet werden.
Laut Lexi Webster, außerordentliche Professorin für digitale Kultur an der Universität Southampton, sind Transvestigations in den sozialen Medien entstanden, weil Einzelpersonen versuchen, eine Art versteckte Transgender-Identität bei Prominenten aufzudecken. Die Nutzer posten Bilder, auf denen sie "die Größe und Form der Schultern, des Schädels und des Kiefers, aber auch den Gang und die Genitalien einer Person untersuchen".
Falsche Behauptungen über die Geschlechtsidentität von starken Frauen in Machtpositionen dienen dazu, sie zu diffamieren und zu entmenschlichen. Diese Angriffe basieren auf tief verwurzelten trans- und frauenfeindlichen Vorurteilen. Auch in Deutschland sind solche Mechanismen nicht unbekannt: Sogar Britta Ernst, Ehefrau von Olaf Scholz, wurde bei Telegram transvestigiert, wie eine Analyse der Friedrich-Naumann-Stiftung aufzeigt.
Rechtliche Grauzone in Deutschland
Während in Frankreich nun ein Präzedenzfall geschaffen werden könnte – den Angeklagten drohen bis zu drei Jahre Haft und eine Geldstrafe von 45.000 Euro – stellt sich die Frage: Wie würde Deutschland mit solchen Fällen umgehen?
In Deutschland existiert bis dato kein eigenständiger Straftatbestand für Cybermobbing. Trotzdem können viele zum Cybermobbing gehörige Handlungen nach geltendem Recht strafbar sein, da sie das im Grundgesetz verankerte allgemeine Persönlichkeitsrecht betreffen. Transgender Personen sind in Deutschland durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützt, das Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität verbietet. Dies schließt auch diffamierende Aussagen oder Hassreden im Internet ein.
Dennoch besteht eine Schutzlücke. Fast zwei Drittel finden, dass die aktuellen strafrechtlichen Regelungen nicht ausreichen, um Betroffene effektiv zu schützen. Rund 64 Prozent halten die Einführung eines eigenen Straftatbestands für Cybermobbing für die wirksamste Maßnahme. Queere Menschen sind online vermehrt Gewaltandrohungen und Beleidigungen ausgesetzt.
Die tieferen Motive hinter der Hetze
Was treibt Menschen an, solche Verschwörungstheorien zu verbreiten? Die gefälschten Behauptungen haben sich zum Teil deshalb so sehr verbreitet, weil sie auf der Wahrnehmung aufbauen, dass Politiker von Natur aus betrügerisch sind. Weitere Faktoren sind "das verschwörerische Element, das transphobisch ist und von Diskursen untermauert wird, dass es eine Art Trans-Kabale gibt, die versucht, die Macht über bestimmte Branchen zu übernehmen".
Gender- und Sexualitätsforscher sagen, die Verschwörungstheorie über Michelle Obama als trans Frau gedeiht seit mehr als einem Jahrzehnt und wurzelt in Rassismus, Transphobie und Misogynie sowie in den Vorstellungen einiger Amerikaner darüber, wie eine First Lady Rasse-, Klassen- und Geschlechternormen verkörpern sollte.
Ein Signal für die Zukunft
Der Prozess in Paris ist mehr als nur eine juristische Auseinandersetzung. Er ist ein Kampf darum, welche Grenzen die Meinungsfreiheit hat, wenn sie zur Waffe gegen Einzelne wird. Die jahrelangen Verleumdungen "verschlechtern die Lebensbedingungen und die Gesundheit" von Brigitte Macron.
Für die LGBTQ+-Community hat dieser Fall eine zusätzliche Dimension: Die transphoben Verschwörungstheorien perpetuieren die gefährliche Vorstellung, dass trans-Identitäten etwas Täuschendes, Betrügerisches seien. Laut Forschenden des RESIST-Projekts ist Transfeindlichkeit "in allen untersuchten Kontexten eine etablierte Form sozialer Gewalt", die durch einen medialen und politischen Fokus in den letzten Jahren verstärkt wurde.
Während das Pariser Gericht noch berät, bleibt eine zentrale Erkenntnis: Die Behauptungen über Brigitte Macron und Michelle Obama sind unbegründete Verschwörungstheorien, die darauf abzielen, Frauen in Machtpositionen zu diskreditieren. Sie basieren auf keinerlei Fakten und wurden mehrfach widerlegt. Und doch zeigen sie, wie wirksam digitale Desinformation sein kann – und wie dringend wir in Deutschland und Europa einheitliche rechtliche Instrumente brauchen, um Betroffene zu schützen.
