Verbot von Pride in Ungarn: Eine fundamentale Bedrohung für die Demokratie in Europa und ihre Bedeutung für Deutschland

Das Verbot von Pride-Veranstaltungen in Ungarn stellt eine fundamentale Bedrohung für die Demokratie dar, zu der auch Deutschland nicht schweigen darf. Im ursprünglichen Artikel von ILGA-Europe wird aufgezeigt, wie das ungarische Vorgehen gegen die LGBTQ+-Community weitreichende Folgen für die demokratischen Grundwerte in der gesamten EU hat.

Ein demokratischer Albtraum im Herzen Europas

Stellen Sie sich vor: Der Christopher Street Day in Berlin, Köln oder München wird von der Bundesregierung verboten. Die Organisatoren werden strafrechtlich verfolgt. Gesichtserkennungssoftware identifiziert Teilnehmende, die trotzdem erscheinen, um sie zu registrieren und mit Bußgeldern zu belegen. Politiker schweigen weitgehend. Die Europäische Kommission äußert Bedenken, ergreift aber keine konkreten Maßnahmen.

Ein dystopisches Gedankenexperiment für Deutschland – aber in Ungarn bereits Realität. Ungarn ist das erste EU-Land, das faktisch einen Pride-Marsch verboten hat. Nicht aufgrund von Sicherheitsbedenken oder Gewaltrisiken, sondern weil die Regierung entschieden hat, dass LGBTQ+-Menschen nicht mehr friedlich durch die Straßen ihrer Hauptstadt marschieren dürfen.

Deutschlands besondere Verantwortung

Während in Deutschland 2024 zahlreiche Pride-Veranstaltungen stattfinden – vom Pride Month Berlin über den Christopher Street Day in unterschiedlichen Städten bis zum Pride Day Germany am 3. Juli – verschlechtert sich die Lage für die LGBTQ+-Community im EU-Nachbarland dramatisch. Deutschland hat sich bereits der EU-Klage gegen Ungarn angeschlossen, als es um das diskriminierende "Anti-LGBTQ-Propagandagesetz" ging, das 2021 verabschiedet wurde. Deutsche Fußballfans zeigten damals bei einem Spiel gegen Ungarn Regenbogenfahnen als Protest.

Angesichts des jüngsten Verbots von Pride-Veranstaltungen in Ungarn trägt Deutschland als einer der einflussreichsten EU-Mitgliedstaaten eine besondere Verantwortung, klare Konsequenzen zu fordern. Die historische Erfahrung mit dem Abbau demokratischer Rechte sollte Deutschland besonders sensibel für solche Entwicklungen machen.

Angriff auf die Zivilgesellschaft weitet sich aus

Der Raum für zivilgesellschaftliches Engagement in Ungarn schwindet in alarmierendem Tempo. Der neueste Gesetzentwurf mit dem Titel "Über Transparenz im öffentlichen Raum" würde es zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Regierung kritisieren oder sich für Frauen- und LGBTQ+-Rechte einsetzen, praktisch unmöglich machen, Unterstützung aus dem Ausland zu erhalten – einschließlich gezielter EU-Finanzierung durch das Programm "Bürger, Gleichheit, Rechte und Werte" (CERV).

Die Strategie wird immer deutlicher: Minderheiten instrumentalisieren, zivilgesellschaftliche Organisationen diskreditieren und entfinanzieren, die Demokratie abbauen. LGBTQ+-Menschen sind nur Bauern in diesem Zerstörungsspiel. Erst werden Transpersonen und Regenbogenfahnen dämonisiert, dann folgen Pressefreiheit, akademische Freiheit und unabhängige Gerichte.

Europäische Tendenzen und die deutsche Perspektive

Auch in anderen Teilen Europas testet die extreme Rechte die Grenzen aus. In Großbritannien hat der Oberste Gerichtshof Transpersonen den Rechtsschutz entzogen. In Georgien, einst ein EU-Beitrittshoffnungsträger, wurde ein drakonisches Gesetzespaket nach Moskauer Vorbild verabschiedet, um LGBTQ+-Äußerungen zu unterdrücken. In Bulgarien und Italien toben Debatten darüber, wer im öffentlichen Raum und in Schulbüchern existieren darf.

In Deutschland genießen LGBTQ+-Menschen vergleichsweise umfassende Rechte, doch anti-queere Ressentiments und Übergriffe nehmen zu. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) dokumentiert eine steigende Zahl von Hassverbrechen. Erst kürzlich befasste sich der Bundestag erstmals in einer Debatte explizit mit dem Thema "Queere Gewalt".

Das Schweigen der EU ist keine Neutralität, sondern Mittäterschaft

Und die Europäische Kommission? Sie beobachtet. Sie warnt. Aber sie handelt nicht entschlossen. Es wurde kein Vertragsverletzungsverfahren wegen des ungarischen Pride-Verbots eingeleitet. Es wurden keine politischen Kosten für die Kriminalisierung friedlicher Versammlungen auferlegt. Und während in Brüssel Erklärungen über "europäische Werte" abgegeben werden, kämpfen Aktivisten allein gegen Desinformation, Polizeieinschüchterung und öffentliche Feindseligkeit.

Seien wir deutlich: Wenn die Kommission beim Verbot von Pride in der EU wegschaut, ist das keine Neutralität, sondern Mittäterschaft.

Dieses Versagen trifft nicht nur LGBTQ+-Menschen. Es untergräbt das Fundament, auf dem die EU angeblich aufgebaut ist: Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, zivilgesellschaftlicher Raum. Zivilgesellschaftliche Gruppen, insbesondere solche, die LGBTQ+-Rechte verteidigen, werden durch rechtliche Schlupflöcher, feindliche Narrative und Finanzierungsbeschränkungen immer weiter eingeengt. An manchen Orten werden sie als "ausländische Agenten" oder "Feinde der Nation" gebrandmarkt.

Noch ist es nicht zu spät – Deutschlands Rolle

Es ist noch nicht zu spät, um das Blatt zu wenden. Deutschland sollte sich an die Spitze einer Bewegung stellen, die von der Europäischen Kommission fordert, nicht nur Erklärungen abzugeben, sondern Rechte zu verteidigen. Es ist Zeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen des Verbots friedlicher Versammlungen in der EU einzuleiten. Es ist Zeit, zivilgesellschaftliche Gruppen zu unterstützen, die von Verleumdungskampagnen, restriktiven Gesetzen und Finanzierungsbedrohungen ins Visier genommen werden.

Deutschland, das mit seinem jährlichen Christopher Street Day in zahlreichen Städten eine lebendige Pride-Kultur feiert, muss deutlicher Position beziehen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat zwar die ungarische Gesetzgebung bereits kritisiert, doch braucht es nun konkretere Maßnahmen und Druck auf die EU-Kommission, um wirksame Schritte einzuleiten.

Es ist höchste Zeit, dass die Kommission aufhört, "soziale Fragen" von "Regierungsführung" zu trennen, denn wenn Regierungen LGBTQ+-Rechte beschneiden, untergraben sie auch verfassungsmäßige Garantien, richterliche Unabhängigkeit und die Integrität des Staates selbst. Alles hängt zusammen.

Vor allem ist es an der Zeit, LGBTQ+-Menschenrechte als das zu behandeln, was sie sind: ein Barometer für den Gesundheitszustand der Demokratie in der gesamten EU.

Fazit: Ein Weckruf für Deutschland und Europa

Während also am kommenden Wochenende Regenbogenfahnen in Berlin, Köln, München und anderen deutschen Städten wehen, wo EU-Bürger frei und friedlich an Pride-Veranstaltungen teilnehmen können – ohne Gesichtserkennung, ohne Bußgelder, ohne Kriminalisierung – fordern wir die deutschen und europäischen Führungspersönlichkeiten auf, nach Ungarn zu blicken und zu handeln. Man kann keine Union aufbauen, die auf Gleichheit basiert, und gleichzeitig zulassen, dass eines ihrer Mitglieder Pride kriminalisiert.

Denn wenn es mit dem Verbot eines Marsches beginnt – wo endet es dann? Diese Frage sollte uns alle, besonders in Deutschland mit seiner historischen Erfahrung, zutiefst beunruhigen und zum Handeln bewegen.

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