Die Behandlung von Jugendlichen, die sich nicht mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren, erhĂ€lt jetzt erstmals in Deutschland einen einheitlichen fachlichen Rahmen. Anfang MĂ€rz haben 26 medizinische und psychotherapeutische Fachgesellschaften sowie zwei Patientenvertretungsorganisationen eine medizinische Leitlinie zur fachgerechten Behandlung von transgeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen veröffentlicht, wie queer.de berichtete. Das mehrere hundert Seiten lange Dokument bietet umfassende Empfehlungen fĂŒr einen respektvollen und fachlich angemessenen Umgang mit den Betroffenen.
Sieben Jahre Arbeit fĂŒr ein wegweisendes Dokument
Die Erstellung der S2k-Leitlinie dauerte insgesamt sieben Jahre und war ein umfassender Prozess, an dem Vertreter von 27 Fachorganisationen sowie einem Verband von trans Personen und einer Elternorganisation beteiligt waren. FederfĂŒhrend waren dabei Georg Romer, Ărztlicher Direktor der Klinik fĂŒr Kinder- und Jugendpsychiatrie am UniversitĂ€tsklinikum MĂŒnster, und Dagmar Pauli, Kinder- und Jugendpsychiaterin am UniversitĂ€tsspital ZĂŒrich.
"Die Leitlinie ist ein Meilenstein: Sie wird die medizinische und psychotherapeutische Versorgung von trans Jugendlichen verbessern und transparenter machen fĂŒr die Jugendlichen und ihre Familien", erklĂ€rt Sabine Maur von der Bundespsychotherapeutenkammer, eine der Autorinnen der Leitlinie. Sie betont, dass die Leitlinie fundierte Empfehlungen fĂŒr alle relevanten Behandlungsschritte gibt â von der Diagnostik ĂŒber psychosoziale UnterstĂŒtzung bis hin zu geschlechtsangleichenden MaĂnahmen.
Mehr Selbstbestimmung fĂŒr Jugendliche
Ein zentraler Aspekt der neuen Leitlinie ist die StĂ€rkung der Selbstbestimmung der betroffenen Jugendlichen. Ăber eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung sollte eine jugendliche Person nach Angaben der Leitlinie immer selbst in der Lage sein zu entscheiden, wobei die Eltern diesem Schritt zustimmen sollten. Die FachkrĂ€fte haben dabei die Aufgabe, die Jugendlichen zu unterstĂŒtzen, eine gut abgewogene Entscheidung zu treffen.
Mari GĂŒnther vom Bundesverband Trans* weist darauf hin, dass trans Jugendliche in der Versorgung hĂ€ufig Misstrauen erfahren: "So glaubten manche Versorger*innen, die nicht gut informiert seien, ein Jugendlicher sei nicht richtig trans, wenn nicht sicher sei, ob er Hormone nehmen wolle oder nicht." Die neue Leitlinie betont hingegen die Wichtigkeit eines akzeptierenden Raums fĂŒr den eigenen AbwĂ€gungsprozess der Jugendlichen.
SorgfÀltige Entscheidungen im Einzelfall
Georg Romer, Kinder- und Jugendpsychiater und Koordinator der Leitlinie, betont die Bedeutung einer sorgfĂ€ltigen Einzelfallentscheidung: "Wir mĂŒssen junge Menschen vor verfrĂŒhten Fehlentscheidungen schĂŒtzen, aber wir mĂŒssen auch berĂŒcksichtigen, dass ein zu langes Warten auch schĂ€dliche Folgen haben kann." Die Leitlinie strebt damit einen ausgewogenen Ansatz an, der sowohl ĂŒberstĂŒrzte Entscheidungen vermeidet als auch unnötiges Leid durch zu lange Wartezeiten verhindert.
Voraussetzungen fĂŒr eine Hormonbehandlung
Die Leitlinie legt klare Kriterien fĂŒr den Beginn einer medizinischen Behandlung fest. Grundvoraussetzung ist ein hoher Leidensdruck der Patient*innen oder die EinschĂ€tzung, dass dieser ohne Behandlung entstehen wĂŒrde. Eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung sollte nur dann beginnen, wenn die Person sich seit mehreren Jahren als transgeschlechtlich fĂŒhlt, um vorĂŒbergehende IdentitĂ€tssuchen auszuschlieĂen.
Entgegen frĂŒherer Praxis ist es laut Leitlinie nicht mehr notwendig, eine bestimmte Mindestanzahl an Therapiestunden absolviert zu haben. Psychotherapie solle zwar allen Personen, die sie benötigen, niedrigschwellig angeboten werden, sei aber keine Pflicht mehr. "Aber es fĂŒhrt zu nichts, eine Psychotherapie zwangsweise anzubieten, weil sie dann auch nicht hilft", erlĂ€utert Mari GĂŒnther. Verpflichtend bleiben jedoch eine umfassende jugendpsychiatrische Diagnostik und mehrere GesprĂ€che mit FachkrĂ€ften vor Beginn einer Hormontherapie.
PubertÀtsblocker und Hormontherapie
PubertĂ€tsblocker, die vorĂŒbergehend die pubertĂ€tsbedingten KörperverĂ€nderungen verhindern, spielen in der Behandlung eine wichtige Rolle. Sie verschaffen Jugendlichen Zeit fĂŒr ihre Entscheidungsfindung und gelten als vollstĂ€ndig reversibel, sobald die Medikamente abgesetzt werden. Im Gegensatz dazu bewirkt eine Hormontherapie mit Geschlechtshormonen (Estradiol bei trans Frauen, Testosteron bei trans MĂ€nnern) aktive KörperverĂ€nderungen, die teilweise nicht mehr rĂŒckgĂ€ngig gemacht werden können.
Die Leitlinie betont daher, dass fĂŒr solche Entscheidungen "ein hohes MaĂ an kognitiver und sozioemotionaler Reife" der MinderjĂ€hrigen erforderlich ist. Die Hormone mĂŒssen in der Regel lebenslang genommen werden, was die Tragweite der Entscheidung unterstreicht.
Zahlen und gesellschaftlicher Kontext
Trotz der zunehmenden Sichtbarkeit des Themas in der Ăffentlichkeit ist die absolute Zahl der medizinisch behandelten jungen Menschen sehr niedrig. "Hochgerechnet sind es jĂ€hrlich in ganz Deutschland wenige hundert Jugendliche, die neu mit einer PubertĂ€tsblockade oder geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung beginnen", erklĂ€rt Romer.
Der Anstieg geschlechtsangleichender Operationen bei Erwachsenen in den letzten Jahren ist nach EinschĂ€tzung der Expert*innen nicht auf eine plötzlich höhere Anzahl trans Personen zurĂŒckzufĂŒhren. Vielmehr seien eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz, die Entstigmatisierung und verbesserte Versorgungsangebote der Grund dafĂŒr, dass sich mehr Betroffene behandeln lassen.
Debatte um wissenschaftliche Evidenz
Es gibt auch kritische Stimmen zur neuen Leitlinie. So hat Florian Zepf, der die Leitlinienkommission verlassen hat, bemĂ€ngelt, dass nicht alle Empfehlungen durch ausreichende wissenschaftliche Evidenz gestĂŒtzt seien. Insbesondere wird die wissenschaftliche Evidenz fĂŒr den Nutzen von PubertĂ€tsblockern als eher schwach eingeschĂ€tzt, wĂ€hrend es fĂŒr geschlechtsangleichende Hormonbehandlungen mehr unterstĂŒtzende Daten gibt.
Die Leitlinie befand sich bis Ende April 2024 in der Kommentierungsphase durch die beteiligten Fachgesellschaften. Es wird erwartet, dass die endgĂŒltige Version voraussichtlich im Juni 2024 veröffentlicht wird. Mit der vollstĂ€ndigen Implementierung dieser Leitlinie erhĂ€lt Deutschland erstmals einen umfassenden, evidenzbasierten Standard fĂŒr die Behandlung von trans Jugendlichen, der sowohl ihre Selbstbestimmung respektiert als auch ihre Sicherheit gewĂ€hrleistet.
Die vollstĂ€ndige Leitlinie kann als PDF-Dokument ĂŒber die Website der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) abgerufen werden.