Der Paragraph 175: Ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte und seine Aufarbeitung

Im Jahr 2024 ist es wichtiger denn je, an ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte zu erinnern und gleichzeitig die Fortschritte bei der Aufarbeitung zu würdigen. Die Geschichte des Paragraphen 175 und der Weg zur späten Gerechtigkeit für seine Opfer zeigt, wie lang und beschwerlich der Kampf für LGBTQ+-Rechte in Deutschland war – und teilweise noch ist.

Die Zahlen sind erschütternd: Allein zwischen 1945 und 1969 wurden in Westdeutschland etwa 50.000 Männer aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verurteilt. Weitere 14.000 Verurteilungen folgten bis zur endgültigen Abschaffung des Paragraphen 175 im Jahr 1994. Hinter jeder dieser Zahlen steht ein individuelles Schicksal – zerstörte Karrieren, zerrissene Familien, gesellschaftliche Ächtung und in vielen Fällen auch Suizide.

Besonders tragisch: Viele Männer, die das NS-Regime in Konzentrationslagern aufgrund ihrer Homosexualität gefangen hielt, wurden nach ihrer Befreiung 1945 direkt wieder inhaftiert. Die junge Bundesrepublik übernahm nicht nur den Paragraphen 175, sondern auch seine von den Nationalsozialisten verschärfte Fassung. Eine juristische und gesellschaftliche Kontinuität, die heute kaum zu begreifen ist.

Der Weg zur Rehabilitierung war lang. Erst 2017 – ganze 23 Jahre nach Abschaffung des Paragraphen – beschloss der Deutsche Bundestag die Aufhebung der Urteile und eine Entschädigungsregelung für die Opfer. Diese sieht 3.000 Euro für jedes aufgehobene Urteil vor, plus zusätzliche 1.500 Euro pro angefangenem Jahr in Haft.

Initiativen wie "Offene Rechnung" kritisieren diese Entschädigung als zu gering angesichts des erlittenen Unrechts. Dennoch ist die Rehabilitierung ein wichtiges Symbol staatlicher Anerkennung des geschehenen Unrechts. Betroffene und ihre Angehörigen können noch bis zum 21. Juli 2027 Entschädigungsanträge beim Bundesamt für Justiz stellen.

Die Aufarbeitung des Paragraphen 175 lehrt uns heute mehrere wichtige Lektionen: Erstens, wie fragil erkämpfte Rechte sein können. Zweitens, wie wichtig es ist, gegen Diskriminierung und für Gleichberechtigung einzustehen. Und drittens, dass gesellschaftlicher Fortschritt möglich ist – auch wenn er manchmal erschreckend lange dauert.

Für die LGBTQ+-Community ist diese Geschichte nicht nur Vergangenheit. Sie ist Mahnung und Auftrag zugleich: Mahnung, wachsam zu bleiben gegenüber jeder Form von Diskriminierung. Und Auftrag, weiter für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität keine Grundlage für Ausgrenzung mehr sind.

Der Paragraph 175 mag Geschichte sein, aber seine Aufarbeitung ist es nicht. Sie erinnert uns daran, dass der Kampf für Gleichberechtigung und Akzeptanz eine fortwährende Aufgabe bleibt – für die gesamte Gesellschaft.

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