Als die DDR ihre "homophilen Bürger" zu akzeptieren begann - Ein Wendepunkt im Jahr 1985

Eine kleine Notiz im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" kündigte 1985 eine Gemeinschaftstagung zu "Psychosozialen Aspekten der Homosexualität" in Leipzig an. Was zunächst wie eine wissenschaftliche Veranstaltung unter vielen aussah, markierte einen historischen Wendepunkt für LGBTQ+ Menschen in der DDR. Der ursprüngliche Bericht zeigt, wie sich am 28. Juni 1985 - fast zufällig am heutigen Christopher Street Day - die Diskussion um die Rechte homosexueller Menschen in der DDR grundlegend veränderte.

Zwischen Repression und Fortschritt - Die Situation vor 1985

Die DDR hatte bereits 1968 den berüchtigten Paragraf 175 durch den § 151 ersetzt, womit homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nicht mehr strafbar waren. Dennoch blieben homosexuelle Menschen gesellschaftlich ausgegrenzt. Das Ministerium für Staatssicherheit überwachte queere Gruppen systematisch, und die 1976 gegründete "Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin" wurde bereits Ende der 1970er Jahre aufgelöst.

In dieser angespannten Atmosphäre wuchs der Handlungsdruck. Arbeitskreise in evangelischen Gemeinden entstanden als einzige Rückzugsorte, während die Redaktion der Zeitschrift "Deine Gesundheit" nach ersten Artikeln 1984/85 erschütternde Briefe von Schwulen und Lesben erhielt, die ihre verzweifelte Situation schilderten.

Der Leipziger Durchbruch - Wissenschaft trifft Aktivismus

Die Leipziger Tagung am 28. Juni 1985 brachte erstmals Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zusammen. Bert Thinius formulierte den später als zentral geltenden Satz: "Es gibt keine humane Alternative zur vollen Anerkennung Homosexueller als gleichwertige und gleichberechtigte Bürger, zur Respektierung ihrer sexuellen Orientierung und der daraus resultierenden Formen ihrer Partnerschaften."

Besonders bewegend waren die Beiträge von Ursula Sillge, die später den Sonntags-Club Berlin mitgründete, und Eduard Stapel, der bereits 1982 den Arbeitskreis Homosexualität der Evangelischen Studentengemeinde Leipzig ins Leben gerufen hatte. Ihre persönlichen Erfahrungen und konkreten Vorschläge verliehen der akademischen Diskussion eine menschliche Dimension.

Parallelen zum heutigen Deutschland - Was wir lernen können

Die DDR-Erfahrung zeigt bemerkenswerte Parallelen zur deutschen LGBTQ+ Geschichte nach 1990. Wie in der DDR 1985 brauchte es auch im wiedervereinigten Deutschland die Kombination aus wissenschaftlicher Forschung, mutigen Aktivist*innen und gesellschaftlichem Druck, um Fortschritte zu erzielen. Der komplette Wegfall diskriminierender Gesetze erfolgte in Deutschland erst 1994, während die Ehe für alle 2017 eingeführt wurde.

Heute kämpfen queere Menschen in Deutschland weiterhin gegen strukturelle Diskriminierung - sei es bei der Blutspende, bei Adoptionsrechten oder gegen transfeindliche Gewalt. Die Geschichte der DDR erinnert uns daran, dass gesellschaftlicher Wandel Zeit braucht und nur durch das Zusammenwirken verschiedener Akteure gelingt.

Konkrete Verbesserungen im Alltag

Die Auswirkungen der Leipziger Tagung zeigten sich schnell im DDR-Alltag. Die "Wochenpost" ermöglichte ab 1985 Kontaktanzeigen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften - wenn auch mit monatelangen Wartezeiten. Wohnungsverwaltungen begannen, Wohnungen an gleichgeschlechtliche Paare zu vergeben, und 1986 entstand mit dem Sonntags-Club der erste offizielle Begegnungsort außerhalb der Kirche.

Besonders bedeutsam war die Überarbeitung von Aufklärungsbüchern. Heinrich Brückners "Denkst du schon an Liebe?" enthielt in der 5. Auflage 1985 erstmals eine positive Darstellung von Homosexualität. Prof. Dr. Erwin Günther schrieb in "Deine Gesundheit": "Homosexualität ist eine natürliche Variante in dem sehr weiten Bereich sexuellen Erlebens und Verhaltens."

Das Erbe von 1985

Die Leipziger Tagung 1985 bewies, dass auch in autoritären Systemen Räume für Veränderung entstehen können. Die Kombination aus wissenschaftlicher Expertise, persönlichen Geschichten und politischem Mut schuf eine Dynamik, die bis zur Wende 1989 anhielt. Als der § 151 DDR-StGB am 1. Juli 1989 gestrichen wurde, waren die Grundlagen bereits vier Jahre zuvor gelegt worden.

Für heutige LGBTQ+ Aktivist*innen zeigt diese Geschichte: Sichtbarkeit, wissenschaftliche Fundierung und das Eingehen strategischer Allianzen können auch scheinbar unveränderliche Strukturen aufbrechen. Die "homophilen Bürger" der DDR erkämpften sich Schritt für Schritt ihre Anerkennung - ein Vermächtnis, das bis heute inspiriert.

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