Der jüngste Untersuchungsbericht des Bistums Fulda offenbart ein erschütterndes Bild systematischen Versagens: Mindestens 120 Menschen wurden zwischen 1945 und 2024 Opfer sexueller Gewalt durch Kirchenvertreter. Doch hinter den nüchternen Zahlen verbergen sich menschliche Tragödien, die besonders queere Betroffene in einem Umfeld institutioneller Diskriminierung zusätzlich belasten.
Vertuschung und Gleichgültigkeit als System
Die Untersuchungskommission spricht eine klare Sprache: 239 dokumentierte Taten, 37 Beschuldigte - zumeist Pfarrer und Kapläne - und ein System aus Vertuschung und Gleichgültigkeit gegenüber den Betroffenen. Besonders perfide: Bis zur Jahrtausendwende wurden Beschuldigte mit Nachsicht behandelt, während Opfern oft nicht geglaubt wurde und sie in ihren Gemeinden gemieden wurden.
Kommissionssprecher Gerhard Möller betont die hohe Dunkelziffer: "Die tatsächliche Gesamtzahl liegt deshalb sicher um ein Mehrfaches höher." Diese Einschätzung deckt sich mit bundesweiten Erkenntnissen zur Missbrauchsaufarbeitung, die zeigen, dass die offiziellen Zahlen nur die Spitze des Eisbergs darstellen.
Queere Betroffene im Schatten der Aufarbeitung
Während der Fuldaer Bericht die allgemeine Problematik beleuchtet, bleiben queere Betroffene oft unsichtbar. Dabei zeigen Studien aus anderen Bistümern deutliche Zusammenhänge zwischen der katholischen Sexualmoral und spezifischen Diskriminierungsformen. LGBTQ+ Personen, die Missbrauch erlebt haben, sehen sich oft einer doppelten Stigmatisierung ausgesetzt: als Missbrauchsopfer und als queere Menschen in einem Umfeld, das ihre Identität ablehnt.
Besonders problematisch ist die Tabuisierung von Homosexualität in der Kirche. Experten wie Anna Kuliberda weisen darauf hin, dass die Unterdrückung sexueller Identitäten in klerikalen Strukturen zu pathologischen Verhaltensmustern führen kann, die letztendlich Missbrauch begünstigen.
Fortschritte und Rückschläge in der Aufarbeitung
Während das Bistum Fulda nun Transparenz zeigt, gestaltet sich die deutschlandweite Aufarbeitung uneinheitlich. Positive Entwicklungen wie die Einrichtung von Regenbogenpastoral in verschiedenen Bistümern stehen Rückschlägen gegenüber, etwa der Auflösung der gemeinsamen Aufarbeitungskommission der Bistümer Berlin, Dresden-Meißen und Görlitz.
Kritiker wie Kirchenrechtler Norbert Lüdecke bezeichnen viele kirchliche Aufarbeitungsversuche als "Ablenkungs-PR", die von der tatsächlichen Verantwortung der Bischöfe ablenke. Die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" sieht die Aufarbeitung als weitgehend gescheitert an.
Finanzielle Entschädigung - ein Tropfen auf den heißen Stein
Das Bistum Fulda hat bisher rund 500.000 Euro als "Anerkennungsleistung" an Betroffene ausgezahlt - bei 120 dokumentierten Opfern entspricht das durchschnittlich etwa 4.200 Euro pro Person. Betroffenenvertreter Stephan Auth fordert zu Recht "angemessene Entschädigungen" und betont, dass die Aufarbeitung nicht mit der Veröffentlichung des Berichts enden darf.
Ein Wendepunkt für die Kirche?
Bischof Michael Gerber bezeichnet die Veröffentlichung als "Meilenstein" und Beginn eines neuen Aufarbeitungsabschnitts. Ob diese Worte von Taten gefolgt werden, wird sich zeigen müssen. Für queere Betroffene ist besonders wichtig, dass ihre spezifischen Erfahrungen nicht länger unsichtbar bleiben und die Kirche ihre diskriminierende Haltung gegenüber LGBTQ+ Menschen grundlegend überdenkt.
Die 325.000 Katholik*innen im Bistum Fulda - und weit darüber hinaus - haben ein Recht darauf, dass aus erschütternden Berichten wie diesem endlich nachhaltige Veränderungen erwachsen. Nur so können weitere Generationen vor den Traumata geschützt werden, die diese Institution über Jahrzehnte zu verantworten hat.