Zwischen zwei Welten: Wie queere Muslim*innen in Deutschland ihre Identitäten vereinen

In Deutschland kämpfen queere Muslim*innen um Anerkennung in beiden Teilen ihrer Identität. Das Buch "Liebe ist halal" beleuchtet ihre Erfahrungen und schafft eine Brücke zwischen Religion und sexueller Identität. Die Originalrezension stammt von queer.de, doch das Thema verdient einen tieferen Blick in die deutsche Realität dieser oft übersehenen Community.

Die Ibn Rushd-Goethe Moschee: Ein sicherer Hafen in Berlin

Im Herzen Berlins steht die Ibn Rushd-Goethe Moschee - ein Leuchtturm für einen liberalen Islam in Deutschland. 2017 von der Frauenrechtlerin Seyran Ateş mitbegründet, hat sich die Moschee als einzigartiger spiritueller Raum für queere Muslim*innen etabliert. Im Jahr 2022 setzte die Gemeinde ein weltweites Zeichen, als sie als erste Moschee überhaupt die Regenbogenfahne hisste. Diese mutige Geste im Rahmen der Kampagne "Liebe ist halal" löste international sowohl Hass als auch Hoffnung aus.

Besonders bedeutsam: Die Moschee richtete die Anlaufstelle "Islam und Diversität" ein, die täglich von queeren Muslim*innen, aber auch von Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen kontaktiert wird, die in ihrem Berufsalltag mit islamisch begründeter Queerfeindlichkeit konfrontiert sind. Diese Arbeit zeigt, wie dringend solche Räume in Deutschland benötigt werden.

Leben zwischen den Identitäten

Der Sammelband "Liebe ist halal" versammelt sowohl wissenschaftliche Beiträge als auch sehr persönliche Erfahrungsberichte. Carolin Leder und Tugay Saraç bringen es in der Einleitung auf den Punkt: "Queer und muslimisch zu sein, bedeutet, zwischen den Identitäten navigieren zu müssen, vor allem, wenn diese im direkten sozialen Umfeld als unvereinbar angesehen oder kategorisch abgelehnt werden."

Die porträtierten Lebensgeschichten sind in ihrer Authentizität berührend und zeigen das Spektrum der Erfahrungen in Deutschland. Berfin Çelebi beschreibt ihr früheres Doppelleben: "Von Montag bis Freitag war ich der brave Moslem und am Wochenende die Person, die ich wirklich bin." Nach ihrem Coming-out musste sie mit vielen Familienmitgliedern brechen und zog nach Berlin, um ihre Transition zu beginnen.

Ähnlich schwierige Wege gingen Johanna Haupt und Marwa Khabbaz, die beide in Deutschland aufwuchsen und deren Familien ihre Identität als "krank" oder "vom Teufel besessen" bezeichneten. Bemerkenswert ist auch die Geschichte von Tugay Saraç, der sich in seiner Jugend in Deutschland radikalisierte und später in der Ibn Rushd-Goethe Moschee zu sich selbst finden konnte.

Islam und Queerness: Kein Widerspruch

Die wissenschaftlichen Beiträge des Buches verdeutlichen, dass die oft als unumstößlich dargestellte Unvereinbarkeit von Islam und queeren Identitäten keineswegs so eindeutig ist. Carolin Leder verweist auf den islamischen Theologen Ali Ghandour, der betont, "dass im Koran keinerlei eindeutige Aussagen zu queeren Interaktionen getroffen werden." Die religiös begründete Queerfeindlichkeit sei vielmehr ein Produkt der Kolonisierung.

Dies deckt sich mit Erkenntnissen der Bundeszentrale für politische Bildung, die aufzeigt, dass in der islamischen Geschichte durchaus Zeiten und Regionen existierten, in denen gleichgeschlechtliche Beziehungen akzeptiert oder zumindest toleriert wurden.

Die Ethnologin Susanne Schröter verdeutlicht in dem Buch, dass der Islam keineswegs einheitlich ist und in verschiedenen Regionen unterschiedliche Geschlechtervorstellungen existieren. So kennen beispielsweise die bugis auf der indonesischen Insel Sulawesi fünf Geschlechtsidentitäten, während im Iran geschlechtsangleichende Operationen zwar erlaubt, aber als "alternativlose Pflicht" dargestellt werden.

Die Situation in Deutschland: Viel Handlungsbedarf

Trotz der bemerkenswerten Arbeit der Ibn Rushd-Goethe Moschee bleibt die Situation für queere Muslim*innen in Deutschland schwierig. Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung erleben viele von ihnen Mehrfachdiskriminierung: In der LGBTQ+-Community werden sie mit Islamfeindlichkeit konfrontiert, in muslimischen Gemeinschaften mit Queerfeindlichkeit.

Besonders kritisch sieht Tugay Saraç die Deutsche Islamkonferenz, die liberal-muslimischen Stimmen kaum Gehör schenkt. Obwohl Vertreter*innen der Ibn Rushd-Goethe Moschee regelmäßig eingeladen werden, bekommen sie nur die Rolle passiver Zuschauer*innen zugewiesen. "Das ist im Hinblick auf die Tatsache, dass unsere Moschee die einzige liberale Moschee in Deutschland ist, eine Schande", schreibt Saraç.

Dabei wäre gerade der Dialog zwischen verschiedenen muslimischen Strömungen, dem Staat und der LGBTQ+-Community in Deutschland dringend notwendig. Die Kampagne "Liebe ist halal" und das gleichnamige Buch leisten hier wichtige Pionierarbeit, indem sie Sichtbarkeit schaffen und Vorbilder präsentieren.

Brücken bauen statt Gräben vertiefen

Bemerkenswert ist die Botschaft von Tugay Saraç, der selbst den Weg aus der Radikalisierung fand: "Kein Islamist, kein Extremist sollte einfach aufgegeben werden." Dieser versöhnliche Ton zieht sich durch viele der Beiträge. Die Autor*innen wollen keine Feindbilder schaffen, sondern Verständnis wecken und Brücken bauen - sowohl in die muslimische Community als auch in die Mehrheitsgesellschaft.

Diese Haltung ist besonders in Deutschland wichtig, wo Debatten über Islam und LGBTQ+-Rechte oft polarisiert und für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Das Buch zeigt: Queere Muslim*innen sind keine passiven Opfer, sondern aktive Gestalter*innen ihrer eigenen Geschichte und wichtige Brückenbauer*innen zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft.

Der Sammelband "Liebe ist halal" ist damit weit mehr als eine Sammlung persönlicher Geschichten. Er ist ein wichtiger Beitrag zur Diversität innerhalb der deutschen Gesellschaft und ein Plädoyer für einen Islam, der Vielfalt als Bereicherung versteht. Für alle, die an diesem Dialog interessiert sind, bietet das Buch wertvolle Einblicke und Denkanstöße.

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