Geteilte Wege: NHS-Richtlinien für trans Jugendliche im Vergleich zur deutschen Versorgungslage

Die jüngst durch den Journalisten Jo Maugham in Großbritannien durchgesickerten NHS-Richtlinien zeigen eine besorgniserregende Entwicklung: Britische Hausärzte sollen "Shared-Care-Vereinbarungen" mit privaten Kliniken für trans Jugendliche verweigern. Was bedeutet das für Betroffene in Großbritannien und wie unterscheidet sich die Situation von der in Deutschland? Ein Blick auf zwei Gesundheitssysteme, die sich in der Versorgung von trans Menschen zunehmend in entgegengesetzte Richtungen entwickeln.

NHS-Richtlinien: Ein Schritt zurück in der Versorgung

Die durchgesickerten NHS-Richtlinien verdeutlichen eine Zuspitzung der bereits restriktiven Politik unter dem britischen Gesundheitsminister Wes Streeting. Die Dokumente weisen Hausärzte an, "Shared-Care-Vereinbarungen" für trans Jugendliche unter 18 Jahren zu verweigern – also Absprachen zwischen Hausärzten und spezialisierten Kliniken, die eine gemeinsame Betreuung ermöglichen würden. Dies betrifft auch die Verschreibung von Pubertätsblockern, die in England bereits stark eingeschränkt ist.

Besonders beunruhigend: In einer Fußnote deutet das Dokument an, dass ähnliche Einschränkungen künftig auch für erwachsene trans Personen gelten könnten. Darin heißt es, dass "unregulierte Gesundheitsdienste ein potenzielles Risiko für die Patientensicherheit in allen Altersbereichen darstellen". Eine Klinische Richtlinie für "exogene Hormone" bei Erwachsenen solle 2025/26, also erst in einem oder zwei Jahren, erarbeitet werden – was trans Menschen in Großbritannien in eine lange Phase der Unsicherheit stürzt.

Diese Verschärfung erfolgt, nachdem die Labour-Regierung unter Streeting im Dezember 2024 das von den Konservativen eingeführte Verbot von Pubertätsblockern auf unbestimmte Zeit verlängert hatte – trotz zahlreicher Studien, die zeigen, dass die Risiken vernachlässigbar sind und die Behandlung "lebensrettend" sein kann.

Deutschland: Ein anderer Weg

Im Kontrast dazu steht die Entwicklung in Deutschland, wo gerade eine neue S2k-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur "Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter" fertiggestellt wird. Diese soll die veraltete S1-Leitlinie ablösen und orientiert sich an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Die deutschen Leitlinienentwürfe lockern die bisherigen Anforderungen für Minderjährige, die geschlechtsangleichende medizinische Maßnahmen in Anspruch nehmen möchten. Sie betonen das Recht auf Selbstbestimmung und die Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Der Deutsche Ethikrat unterstützt dies und betont das Recht auf ein Leben entsprechend der eigenen geschlechtlichen Identität.

Während in Großbritannien psychosoziale Interventionen als erste und oft einzige Behandlungsoption empfohlen werden, erkennen die deutschen Leitlinien an, dass die Forderung nach einer zwingenden Psychotherapie vor körperlichen Eingriffen ethisch nicht gerechtfertigt ist. Dr. Georg Romer, ein führender Experte für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland, erklärt dazu: "Pubertätsblocker können wichtig sein, um eine 'falsche' Pubertät und irreversible körperliche Veränderungen zu verhindern."

Shared-Care-Vereinbarungen: Lebenswichtig für die Versorgung

In beiden Ländern spielen Hausärzte eine zentrale Rolle in der Versorgung von trans Personen. In Deutschland können Hausärzte, Endokrinologen oder Gynäkologen Hormone verschreiben und die Hormontherapie überwachen. Viele Hausärzte führen die Behandlung fort, wenn diese bereits von einem Spezialisten begonnen wurde.

Im Vereinigten Königreich hatten Shared-Care-Vereinbarungen bisher eine ähnliche Funktion: Sie teilten die Verantwortung zwischen Gender-Spezialisten und Hausärzten auf und ermöglichten so eine sichere Verschreibung und kontinuierliche Überwachung von Hormonbehandlungen. Die neue Richtlinie könnte dieses bewährte System für Jugendliche komplett zum Erliegen bringen.

"Die Folgen könnten verheerend sein", erklärt Dr. Julia Ehrt, Geschäftsführerin von Transgender Europe. "Wenn Hausärzte nicht mehr mit spezialisierten Einrichtungen zusammenarbeiten dürfen, werden viele trans Jugendliche in gefährliche Selbstmedikation gedrängt oder psychisch stark belastet."

Evidenzbasierte Medizin versus politische Entscheidungen

Die Debatte in beiden Ländern wird von der Frage nach der wissenschaftlichen Evidenz geprägt. In Deutschland zeigen Studien, dass sich die psychische Gesundheit von Jugendlichen, die Zugang zu trans-spezifischer Gesundheitsversorgung haben, deutlich verbessert. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2023 kam zu dem Ergebnis, dass eine frühe Hormonbehandlung (im Alter von 14-17 Jahren) das Risiko von Suizidgedanken vermindern kann.

In Großbritannien hingegen beruft sich der NHS auf den umstrittenen Cass-Bericht, der zu dem Schluss kam, dass es "keine guten Beweise für die langfristigen Auswirkungen von Interventionen zur Bewältigung von geschlechtsbezogenem Leidensdruck" gebe. Kritiker werfen dem Bericht methodische Mängel und eine einseitige Interpretation der vorhandenen Studien vor.

"Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich dieselbe wissenschaftliche Literatur in verschiedenen Ländern interpretiert wird", sagt Prof. Dr. Mari Günther, Leiterin des Instituts für Geschlechterforschung an der Hochschule Merseburg. "In Deutschland werden die positiven Effekte der Behandlung stärker gewichtet, während in Großbritannien die Unsicherheit über langfristige Folgen in den Vordergrund gestellt wird."

Auswirkungen auf Betroffene

Die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Ansätze sind für die betroffenen jungen Menschen erheblich. In Deutschland könnten die neuen Leitlinien den Zugang zu medizinischer Versorgung erleichtern und Diskriminierung abbauen. Das kürzlich in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz trägt zusätzlich dazu bei, rechtliche Hürden abzubauen.

In Großbritannien hingegen berichten Betroffene bereits von massiven Problemen. Mehrere Patienten sagten gegenüber PinkNews, sie seien "entsetzt über die Auswirkungen und hätten Selbstmedikation in Erwägung gezogen, wenn die Entscheidung nicht rückgängig gemacht würde". Diese Form der Selbstmedikation birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, da sie ohne ärztliche Überwachung stattfindet.

Paul Pölslander, Sprecher des Bundesverbands Trans* in Deutschland, sieht mit Sorge auf die Entwicklungen im Vereinigten Königreich: "Was wir dort beobachten, ist ein politisch motivierter Rückschritt, der nicht auf Wissenschaft, sondern auf Vorurteilen basiert. In Deutschland müssen wir wachsam bleiben, dass sich solche Tendenzen hier nicht durchsetzen."

Was können Betroffene in Deutschland tun?

Trotz der vergleichsweise besseren Situation in Deutschland gibt es auch hier Herausforderungen. Viele Hausärzte sind unsicher oder nicht ausreichend informiert über die Hormonbehandlung von trans Personen. Betroffene können auf spezialisierte Webseiten wie Queermed zurückgreifen, um nach queersensiblen Ärzten zu suchen.

Falls Hausärzte eine Behandlung verweigern, können sich Betroffene an Beratungsstellen wie die Bundesverband Trans* oder die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) wenden, die Unterstützung und rechtliche Informationen anbieten.

Angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen in Großbritannien ist es umso wichtiger, die Rechte und den Zugang zu medizinischer Versorgung für trans Menschen in Deutschland zu schützen und weiter zu verbessern. Die unterschiedlichen Wege, die beide Länder einschlagen, verdeutlichen, wie stark politische Entscheidungen das Leben und die Gesundheit von trans Menschen beeinflussen können – im Guten wie im Schlechten.

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