Eine umfangreiche Studie zur Lebenssituation queerer Menschen in Nordrhein-Westfalen zeigt ein ernüchterndes Bild: Die Mehrheit der Befragten hat in den letzten fünf Jahren entweder selbst Übergriffe erlebt oder kennt Betroffene im nahen Umfeld. Die am Freitag von Landesfamilienministerin Josefine Paul (Grüne) vorgestellte Untersuchung "Queer durch NRW" gilt als die bundesweit größte ihrer Art.
Alarmierende Zahlen zu Gewalt und Diskriminierung
Die Ergebnisse der Studie sind beunruhigend: 38 Prozent der über 6.200 Befragten gaben an, selbst Opfer eines Übergriffs geworden zu sein, während weitere 24 Prozent Menschen im nahen Umfeld kennen, die solche Erfahrungen gemacht haben. Besonders betroffen sind trans, intergeschlechtliche und nichtbinäre Personen, die überdurchschnittlich häufig von Ungleichbehandlung, Diskriminierung und Gewalt berichten.
Die Landtagsdrucksache zu dieser Thematik unterstreicht, dass queere Menschen in verschiedenen Lebensbereichen – vom Alltag über die Arbeitswelt bis hin zur Gesundheitsversorgung – häufiger von Diskriminierung betroffen sind als die Mehrheitsgesellschaft.
Hohe Dunkelziffer bei Übergriffen
Besonders alarmierend: Von den Personen, die Gewalterfahrungen angaben, hat sich nicht einmal jeder Zehnte bei der Polizei gemeldet. Als Hinderungsgründe werden der bürokratische Aufwand, Befürchtungen über mangelnde Kompetenz der Polizei im Umgang mit queeren Themen und sogar die Angst vor weiterer Diskriminierung durch die Behörden selbst genannt.
Diese hohe Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle unterstreicht die Notwendigkeit spezialisierter Beratungsangebote und einer besseren Sensibilisierung der Behörden, wie Experten betonen.
Zukunftsangst trotz aktueller Zufriedenheit
Ein paradoxes Ergebnis der Studie: Obwohl über 80 Prozent der Befragten befürchten, dass sich ihre Situation aufgrund zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung verschlechtern wird, äußerten sich fast drei Viertel mit ihrem Leben insgesamt zufrieden. Zwei Drittel schätzten ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein.
In vielen Lebensbereichen werden mehrheitlich positive Erfahrungen gemacht: am häufigsten in Freizeit, Kultur und Ehrenamt (91 Prozent), sozialer Arbeit (90 Prozent), Hochschulen (90 Prozent), Kitas (83 Prozent), der Arbeitswelt (83 Prozent) und in der Familie (82 Prozent).
Ministerin Josefine Paul kommentiert die Ergebnisse: "Für Nordrhein-Westfalen ist es einerseits eine gute Nachricht, dass viele LSBTIQ* derzeit zufrieden sind mit ihrer Lebenssituation in NRW. Es stimmt mich allerdings nachdenklich, dass LSBTIQ* mehrheitlich pessimistisch in die Zukunft schauen."
Besonders problematisch: Die Schule
Die Studie identifiziert die Schule als einen besonders problematischen Lebensbereich. 42 Prozent derjenigen, die in den vergangenen fünf Jahren in NRW zur Schule gegangen sind, berichten von überwiegend negativen Erfahrungen. Ebenfalls kritisch: Ämter und Behörden (27 Prozent negative Erfahrungen) sowie der Sport (26 Prozent).
Diese Ergebnisse bestätigen, was viele Betroffene bereits aus eigener Erfahrung wissen: Schulen sind nach wie vor Orte, an denen queere Jugendliche besonders häufig Ablehnung und Diskriminierung erfahren – eine Situation, die dringend mehr Aufmerksamkeit erfordert.
Maßnahmen der Landesregierung
Als Reaktion auf die Studienergebnisse betont die schwarz-grüne Landesregierung ihre kontinuierlichen Bemühungen, "queere Menschen vor Diskriminierung zu schützen". Dazu gehören die Förderung psychosozialer Beratungsstellen, die Landeskoordination der Anti-Gewalt-Arbeit sowie spezifische Förderungen für Trans*- und Inter*-Organisationen.
Ministerin Paul setzt sich, wie auch auf anderen Plattformen dokumentiert, aktiv für die Rechte und den Schutz von LSBTIQ*-Personen ein und unterstreicht die Bedeutung von Akzeptanz und Vielfalt in der Gesellschaft.
Ein Blick in die Zukunft
Laut Schätzungen ist etwa jede zehnte Person der gut 18 Millionen Einwohner*innen im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschland Mitglied der LGBTIQ-Community. Die nun vorliegende Studie mit über 10.000 Erfahrungsberichten (6.200 Community-Mitglieder und 5.200 Fachkräfte aus unterschiedlichen Berufen) liefert zwar keine statistisch repräsentativen Zahlen, ermöglicht es aber, maßgebliche Problemlagen zu identifizieren und gezielt anzugehen.
Für die Zukunft bleibt es eine zentrale Aufgabe, die gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern, Schutzräume zu schaffen und Diskriminierung entschieden entgegenzutreten – damit die Zukunftsängste der Community nicht zur Realität werden.