Berlin will endlich Ernst machen: Eine Bundesratsinitiative zur Ergänzung des Grundgesetzes um den Schutz der "sexuellen Identität" soll am 11. Juli in die Länderkammer eingebracht werden. Doch während andere Länder längst vorangegangen sind, offenbart der Berliner Vorstoß auch die komplexen politischen Widerstände auf Bundesebene.
Ein überfälliger Schritt für die Verfassung
Die Initiative von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner (CDU) zielt darauf ab, Artikel 3 des Grundgesetzes um das Merkmal "sexuelle Identität" zu erweitern. Aktuell sind dort bereits Schutzmerkmale wie Geschlecht, Abstammung, Sprache und religiöse Anschauungen verankert. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) fordert diese Ergänzung bereits seit Jahrzehnten, um queere Menschen verfassungsrechtlich vor Diskriminierung zu schützen.
Besonders bemerkenswert ist dabei die Rolle der Union: Während sich mehrere CDU-Abgeordnete gegen eine Grundgesetzergänzung stellen, unterstützt ausgerechnet der CDU-Politiker Wegner den Vorstoß. Dies zeigt die internen Spannungen innerhalb der Partei zu LGBTQ+-Rechten auf.
Länder als Vorreiter – Berlin hinkt hinterher
Während die Bundespolitik noch diskutiert, haben bereits sechs Bundesländer Fakten geschaffen: Berlin, Brandenburg, Bremen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen schützen in ihren Landesverfassungen ausdrücklich vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität. Diese Beispiele zeigen, dass verfassungsrechtlicher Schutz durchaus umsetzbar ist.
Die Berliner Initiative kommt allerdings spät: Bereits im April 2023 war sie im schwarz-roten Koalitionsvertrag vereinbart worden, beim CSD 2023 kündigte Wegner sie an. Der Frust in der LGBTQ+-Community über die Verzögerungen führte sogar dazu, dass der CSD drohte, Wegner auszuladen.
Die hohen Hürden der Verfassungsänderung
Eine Grundgesetzänderung benötigt eine Zweidrittelmehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat – eine politische Mammutaufgabe. Die CDU/CSU-Fraktion sieht größtenteils keinen Anlass für eine Änderung, da der Diskriminierungsschutz bereits durch andere Gesetze gewährleistet sei.
Dabei übersehen die Kritiker einen entscheidenden Punkt: Ein expliziter verfassungsrechtlicher Schutz wäre wichtig, um Errungenschaften wie die Ehe für alle gegen zunehmende Angriffe von Rechtsextremen abzusichern. In Zeiten wachsender gesellschaftlicher Polarisierung gewinnt dieser Aspekt zusätzlich an Bedeutung.
Historische Versäumnisse nachholen
Die deutsche Geschichte macht die Dringlichkeit der Initiative deutlich: Homosexuelle wurden während des Nationalsozialismus verfolgt, und auch nach 1945 hielt die Diskriminierung an. Der berüchtigte Paragraph 175, der einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, wurde erst 1994 endgültig abgeschafft – ein beschämend später Zeitpunkt.
Diese historischen Versäumnisse führten zu menschenrechtswidriger Behandlung von homosexuellen und bisexuellen Menschen in der Bundesrepublik. Eine Grundgesetzergänzung wäre nicht nur symbolisch wichtig, sondern auch eine späte Wiedergutmachung.
Die Ampel-Koalition in der Verantwortung
Interessant ist auch die Rolle der Bundesregierung: Die Verankerung der sexuellen Identität als Diskriminierungsmerkmal steht im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. SPD, Grüne und FDP befürworten grundsätzlich eine entsprechende Grundgesetzänderung – doch ohne die Union fehlt die nötige Zweidrittelmehrheit.
Berlins Initiative könnte nun neuen Schwung in die Debatte bringen. Wenn weitere Länder nachziehen, steigt der Druck auf die Bundesebene. Denn letztendlich geht es um mehr als juristische Spitzfindigkeiten: Es geht um die Anerkennung queerer Menschen als gleichberechtigte Bürger*innen unserer Gesellschaft – und das sollte in unserer Verfassung stehen.