"Ein Kampf um Sichtbarkeit: Warum queere Rechte im Koalitionsvertrag nur eine Randnotiz sind"

Die Rechte queerer Menschen spielen im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD so gut wie keine Rolle. Für die wenigen unkonkreten Absätze, die es letztlich in das Regierungsprogramm geschafft haben, habe die SPD hart kämpfen müssen, wie die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken in einem Interview mit der "Frankfurter Rundschau" andeutete. Auf den 144 Seiten des neuen Koalitionsvertrags findet das Wort "queer" gerade einmal zweimal Erwähnung – ein Umstand, der viel über die aktuellen gesellschaftspolitischen Prioritäten aussagt.

Harte Verhandlungen um wenige Worte

"Es war ein Kampf, dass es wenigstens zweimal da steht", erklärte Esken im Interview. Für viele Konservative sei "queer" eines von zahlreichen "woken" Trigger-Wörtern, die sie hart bekämpfen würden. Die SPD-Chefin sieht darin Anzeichen eines Kulturkampfes: "Wir befinden uns mitten in einem Kulturkampf, der uns in voraufklärerische Zeiten zurückführen will – in den USA sehen wir das Vorbild dazu."

Tatsächlich enthält der Koalitionsvertrag mit dem Titel "Verantwortung für Deutschland" nur einen kurzen Absatz zum Thema "Geschlechtliche Vielfalt". Darin wird betont, dass queeres Leben vor Diskriminierung geschützt werden muss und alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei leben können müssen. Welche konkreten Maßnahmen dafür ergriffen werden sollen, bleibt jedoch weitgehend unklar, wie Echte Vielfalt kritisch anmerkt.

Rückschritte statt Fortschritte?

Besonders alarmierend für viele Vertreter*innen der LGBTQ+-Community ist die Tatsache, dass der unter der Ampel-Koalition erarbeitete Aktionsplan "Queer leben" im neuen Koalitionsvertrag mit keinem Wort erwähnt wird. Auch scheint es keinen Queerbeauftragten wie in der vorherigen Legislaturperiode mehr zu geben. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) kritisiert, dass angesichts der steigenden Zahl von Angriffen auf LSBTIQ*-Personen das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erhalten bleiben und der Aktionsplan fortgeführt werden müsse.

Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Ankündigung, das erst kürzlich eingeführte Selbstbestimmungsgesetz bis Juli 2026 evaluieren zu wollen. CDU und CSU forderten im Wahlkampf offen dessen Abschaffung, was sie mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen begründeten. Für viele queere Aktivist*innen ist diese geplante Evaluierung ein besorgniserregendes Signal, wie die Initiative Queer Nations betont.

Rechtspopulistische Gefahr und gesellschaftliche Rückschritte

Im Interview mit der Frankfurter Rundschau zeigte sich Esken auch geschockt über die Forderung des CDU-Politikers Jens Spahn, die AfD so zu behandeln wie jede andere Oppositionspartei im Bundestag. "Das finde ich brandgefährlich und es erschreckt mich, wieviel Zuspruch er dafür auch aus den eigenen Reihen bekommt", erklärte die SPD-Vorsitzende. Für sie steht fest: "Die AfD ist eine rechtsradikale Partei und hat nichts im Bundestag verloren."

Auch in der Wissenschaft tobe derzeit ein Kampf, warnte Esken weiter. "Forschungspartner werden gerade aus den USA befragt, ob sie Diversitätsstrategien verfolgen, denn das würde die Partnerschaft beenden. Das ist eine bittere und brandgefährliche Realität in unserem Land." Die Wissenschaft, aber auch die Zivilgesellschaft seien "hoch alarmiert, letztere nach dieser kleinen Anfrage der CDU an die Bundesregierung oder dem Versuch, das Informationsfreiheitsgesetz abzuschaffen."

SPD sieht sich als Bollwerk für gesellschaftliche Vielfalt

Neben queeren Themen habe die CDU laut Esken auch das Thema Gleichstellung von Frauen "gern weggelassen". In den Koalitionsverhandlungen habe die SPD-Vorsitzende "deutlich gemacht, dass die Errungenschaften einer offenen und vielfältigen Gesellschaft von uns nicht zur Disposition gestellt werden, sondern dass wir im Gegenteil weiter voranschreiten wollen mit der gesellschaftlichen Modernisierung".

Für die LGBTQ+-Community in Deutschland deuten diese Entwicklungen auf herausfordernde Zeiten hin. Während in anderen europäischen Ländern wie Spanien, Portugal und skandinavischen Ländern progressive Entwicklungen im Bereich queerer Rechte zu beobachten sind, scheint Deutschland nun einen konservativeren Kurs einzuschlagen.

Ob die SPD als kleinerer Koalitionspartner tatsächlich die von Esken versprochene "Standhaftigkeit" zeigen kann, wenn es um den Schutz und die Weiterentwicklung queerer Rechte geht, wird sich in den kommenden Jahren erweisen müssen. Für die LGBTQ+-Community bedeutet dies vor allem eines: erhöhte Wachsamkeit und verstärktes zivilgesellschaftliches Engagement werden notwendiger denn je sein.

Retour au blog